„Das war mein Ziel“, sagt Einsatzleiter Christian Dichtl. Mit Genugtuung spaziert der Polizeioberrat um 15.55 Uhr mit einem Kollegen und einem Vertreter der Stadt durch den fast menschenleeren Steinweg. Auf diesem Altstadtpflaster hatten sich letzten Samstag fast zur selben Zeit die sogenannten Corona-"Spaziergänger" dicht gedrängt zum lautstarken Massenprotest getroffen. Heute haben Polizeisperren verhindert, dass sich dieses Szenario wiederholt. Aber was für ein Aufwand! Die halbe Stadt befindet sich zwei Stunden lang stellenweise im Ausnahmezustand.
Schätzungsweise 150 Polizeikräfte liefern sich mit launigen, trotzigen oder aggressiven Corona-"Spaziergängern" ein zweistündiges Katz-und-Maus-Spiel. Von der Neuen Mitte bis in die Altstadt sind an diesem Einkaufssamstag Straßen und Gassen zeitweise lahmgelegt. Die Einschränkungen verspüren die ohnehin geplagten Geschäftsleute, deren Kundschaft und Passauer, die einfach nur ihres Weges gehen wollen.
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Die Polizei hat Einsatzkräfte als Sperrketten aufgestellt, um die Altstadtgassen vor einem neuen Ansturm der Corona-"Spaziergänger" zu bewahren. Zufrieden geht der Einsatzleiter mit Kollegen durch den fast menschenleeren Steinweg, (Foto: mediendenk) |
Vierzehn Mannschafts- und Streifenwagen der Polizei fahren am frühen Nachmittag am Kleinen Exerzierplatz auf. Die Besatzungen, Bereitschaftspolizei in schwarzen Uniformen, postieren sich und halten Ausschau. Ein paar angemeldete linke Aktivisten demonstrieren eine Viertelstunde lang friedlich unter dem Motto „Schluss mit Schwurbel“. Sonst bleibt es ruhig im Neue-Mitte-Stadtpark der Platanen und Brunnen. Doch plötzlich, Grüppchen für Grüppchen, trifft das Spaziergängervolk ein. Unscheinbare und Auffällige. Männer, mit Schlapphut und Schal, die an Cowboys erinnern; junge Frauen, die mit Schminke und Kajal übertrieben haben; Mütter mit blonden Dreadlocks, Kind auf dem Arm, im bunt gestrickten Gewand, die aus der Zeit der Blumenkinder zu stammen scheinen. „Schau mal, da drüben ist ein Brunnen“, erklärt eine Oma ihrem Enkel im Kinderwagen, als würde sie an einem ehemaligen DDR-Grenzstreifen stehen und auf die Wachposten zeigen. Doch "drüben" stehen bloß bayerische Polizeibeamte, die sich eine angemeldete Kundgebung mit einem Versammlungsleiter wünschten. Ein hüfthoher Bauzaun ist von der Stadt vorbereitet worden, damit sich Demo und Gegendemo nicht in die Quere kämen. Aber um Meinungsfreiheit geht es den Ankömmlingen offenbar nicht. Sie wollen unkontrolliert "spazieren gehen", die Stadt belagern.
Drinnen geduldige Impfwillige, draußen aufgebrachte Impfgegner
Um 15.15 Uhr setzen sich die rund 150 Leute, die sich wie Pausierende eines Einkaufsbummels verhalten haben, Richtung ZOB in Bewegung. Doch die Männer und Frauen in den schwarzen Uniformen reagieren schnell. Sie überholen die Menge und schneiden ihr am Nibelungenplatz den Weg Richtung Stadtzentrum ab. "Hier können sie nicht durch!", wird jeder Passant abgewiesen. Den "Spaziergängern" bliebe der Weg durchs Einkaufszentrum, aber den scheuen sie wohl wegen der Maskenpflicht. Zudem müssten sie zu dieser Zeit im ersten Stockwerk des Kaufhauses eine Szene erleben, die viele von ihnen wohl kaum ertragen dürften: Eine Warteschlange von 50 Menschen hat sich vor der Impfstation gebildet. „Ich bin eine Stunde angestanden“, sagt eine Frau, die als nächstes an die Reihe kommt. Drinnen geduldige Impfwillige, draußen aufgebrachte Impfgegner – Passau liefert an diesem Tag das Drehbuch für eine turbulente Pandemie-Komödie.
„Kein Aufzug zulässig!“ verkündet eine Laufschrift am Ludwigsplatz, große gelbe Lettern auf der Anzeigetafel eines Lautsprecherwagens. Eine Männerstimme mahnt, dass „Verstöße gegen die Allgemeinverfügung durch Foto- und Videoaufnahmen beweissicher festgehalten und verfolgt“ werden; eine Straftat begehe, wer gegen Polizistinnen und Polizisten Widerstand leiste. Zu diesem Zeitpunkt haben die Polizeikräfte Sperrgürtel gebildet an den Eingängen der Fußgängerzone im Neumarkt und an den Treppenabgängen zur Frauengasse. Neben Unflätigem und Beleidigendem hören die Beamtinnen und Beamten an den Absperrungen viele Erzählungen. Die Durchlass Begehrenden wollen Weihnachtsplätzchen kaufen, den Dom besichtigen oder das Auto vom Parkplatz holen. Es kommt selten vor, dass sie Gehör finden wie ein Familienvater am abgesperrten Paulusbogen. Der zeigt, etwas ungehalten, seinen Ausweis vor zum Beweis, dass er am Steinweg wohnt. Der Leitende Beamte zieht seine Lesebrille aus der Brusttasche, prüft das Dokument und lässt ihn mit Kinderwagen und Frau passieren. Dem Kleinen im Kinderwagen war während der Kontrolle von einem Polizeibeamten ein Bonbon zugesteckt worden. Das hat auch seinen Vater versöhnt. Doch so freundlich geht es nicht überall ab.
"Irgendwann sei ihr alle dran!"
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Corona-"Spaziergänger" auf Umwegen, hier an der Abfahrtsrampe der Schanzlbrücke Richtung Altstadt. Sie werden auf weitere Polizeiketten treffen. (Foto: mediendenk) |
„Irgendwann seid ihr alle dran!“, schreit ein aufgebrachter Mann die Uniformierten an, nachdem sie ihm den Durchgang verwehrt haben. Er kann sich nicht beruhigen, beschimpft sie lautstark als „SSler“ und "Söders Söldner". Ob dieser Ausfällige einer der beiden Demonstranten ist, der – wie später im Pressebericht zu lesen ist - wegen Beleidigung angezeigt wurde, ist der Redaktion nicht bekannt. „Unglaublich, was sich die Beamten alles anhören müssen“, sagt ein Passauer Fotograf, der für die „Deutsche Presseagentur“ im Einsatz ist. "Solange dieser Trachtenverein unterwegs ist, kommen wir hier nicht weiter", berichtet ein Schlapphutträger am Paulusbogen einem Gesprächspartner am Handy. "Ihr seid nicht ganz sauber, mit Euren Kaffeetüten im Gesicht!", schreit am Schanzl die Mutter mit den blonden Filzsträhnen, Kind am Arm, die Bereitschaftspolizistinnen und -polizisten an, die den Treppenabgang blockieren. Dass diese Ungehaltenen keine Touristen oder Weihnachtseinkaufsbummler sind, belegen kurz darauf unsere Filmaufnahmen. Ein Aufzug von rund 80 Menschen marschiert auf einem Gehweg der Brückenrampe, der sonst kaum benutzt wird, zielstrebig Richtung Altstadt, Corona-"Spaziergänger".
"Maske tragen erscheint mir wie der Hitlergruß"
Journalisten, die ihre Chronistenpflicht erfüllen, die Geschehnisse dokumentieren, werden ebenso zum Feindbild. „Warum filmen sie mit Maske unbescholtene Bürger? Löschen Sie das!“, rügt ein Mann Mitte 40, graue Wollmütze, in der Nagelschmiedgasse den Reporter. Er wolle unbehelligt in seiner Stadt Spazierengehen können. „Weil sie an einer öffentlichen Versammlung teilnehmen“, antwortet der Journalist, der seine Rolle als Beobachter ungern verlässt. Im Dialog verrät sich der Rügende als Corona-"Spaziergänger". "Maske tragen erscheint mir wie der Hitlergruß", sagt er. Deshalb habe er keine. Etwas später, wird es brisanter. „Ich schlag Dir dein Handy runter!“, droht ein „Spaziergänger“ in der Schustergasse, ballt die Faust und holt aus. Als er das Presseschild an der Brust des Reporters erblickt, besinnt er sich. Das Wort „Presse“ hat ihn sicher nicht beeindruckt, aber wahrscheinlich das blaue Schlüsselband, an dem es hing. Das Mitbringsel von einer Polizeiveranstaltung trägt die Aufschrift „Polizeipräsidium Niederbayern“. Dieser versuchte Angriff wirkt skurril, denn der aggressive Mann begleitet eine Gruppe von vier Frauen, die Kerzen vor sich hertragend und mit hoher Stimme von „Frieden“ singen. Solche Gruppen, die sich mit Gesang und Kerzen eindeutig als "Versammlung mit Botschaft" erkennen lassen, somit gegen die Allgemeinverfügung der Stadt verstoßen, werden unter anderem in der Milchgasse von der Polizei gestellt und angezeigt. Bilanz am Ende des Tages wegen solcher Verstöße: 46 Anzeigen; zudem 2 wegen Beleidigung.
Die Blockierten weichen an die Flussuferstraßen aus, um zum Rathaus zu gelangen. Einer solcher Trupp marschiert beispielsweise auf dem schmalen Gehweg der südöstlichen Abfahrtsrampe der Schanzlbrücke Richtung Altstadt. Doch am Ende der Rampe treffen sie auf neue Polizeisperren. Als die Dämmerung hereinbricht, um 16.12 Uhr ist Sonnenuntergang, haben es keine Hundert zum Rathaus geschafft. Dort bilden Polizeikräfte eine Absperrkette zum Rathausturm, wo zwei Dutzend Gegendemonstranten eine Kundgebung abhalten. Eine Rednerin spricht von Solidarität und Rücksichtnahme.
Grablichter am Domplatz: "Erleuchtete" fühlen sich ausgegrenzt
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Bereitschaftspolizei unter weihnachtlichen Lichtergirlanden in der Schustergasse: Sie sammeln sich zum Abzug, der Einsatz ist beendet. (Foto: mediendenk) |
„Zu einem geschlossenen Aufzug oder einer geschlossenen Zugformation kam es aufgrund der Polizeiketten nicht“, schreibt der Polizeipressesprecher in seinem Schlussbericht. Die Polizei hat in der Tat erfolgreich verhindert, dass sich die Massenszenen vom letzten Samstag wiederholten. Aber zur Wahrheit dieses Erfolgs gehört auch, dass viele Passauerinnen und Passauer, die mit diesen Corona-Leugnern, Impfgegnern und Reichsbürgern nichts zu tun haben, Leidtragende der Absperrungen wurden. Die Auftritte der Trotzigen blieben nicht ganz aus. Eine Gruppe von hundert Leuten vereinnahmte beispielsweise den Domplatz, hielt unter dem Christbaum eine eigenartige Gedenkfeier ab. Sie stellten Grablichter in Herzform auf und legten handgeschriebene Zettel ab, die von „Ausgrenzung“ und „Erleuchteten“, von Geimpften und Ungeimpften handeln. Der Einsatzleiter ließ diese weitgehend stumme Menge gewähren.
Nach gut zwei Stunden kehrt der Alltag in die Stadt zurück. Temperaturen um den Gefrierpunkt haben die letzten Ausharrenden vertrieben. Unter weihnachtlichen Lichtergirlanden treten Trauben der schwarz Uniformierten den Heimweg an. „Wir hoffen, dass zukünftige Versammlungen in diesem Zusammenhang bereits im Vorfeld bei der Versammlungsbehörde angemeldet werden“, schreibt Polizeihauptkommissar Johannes Oberneder, der Pressesprecher. Ein Polizeiaufgebot wie an diesem Samstag sei nicht jedes Mal leistbar, hatte Dichtl zum Auftakt gesagt.
hud
