Nachrichten | Monday, 08. December 25

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Titel der Missbrauchsstudie zum Bistum Passau.
Katholische Kirche

Missbrauchsstudie im Bistum Passau: 154 beschuldigte Geistliche und mindestens 700 Betroffene

Passau – Von den rund 2.400 katholischen Klerikern, die seit 1945 im Bistum Passau tätig waren, haben sich nachweislich etwa fünf von hundert an Minderjährigen vergangen – durch sexuellen Missbrauch, körperliche Gewalt oder beides.

Die heute veröffentlichte Studie der Universität Passau identifiziert mindestens 154 beschuldigte Geistliche und kommt zu einem gesicherten Minimum von rund 700 minderjährigen Betroffenen. Nach vorsichtiger Schätzung könnten es um die 1.200 gewesen sein.

Angesichts der Bevölkerungsentwicklung über acht Jahrzehnte dürfte das einer kleinen einstelligen Prozentquote aller damals im Bistum lebenden Minderjährigen entsprechen, ohne dass sich eine exakte Prozentzahl seriös angeben lässt.

Die Zahlen zeigen zwei Dinge zugleich: das systematische Versagen über Jahrzehnte – und die notwendige ehrliche Einordnung, die verhindert, dass ein pauschaler Misstrauensschatten über allen Priestern und Ordensleuten liegt. 

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Leiter des Forschungsprojektes: Professor Marc von Knorring. (Quelle: Vimeo)
Professor Marc von Knorring, Leiter der Studie, erklärt in seiner Stellungnahme, dass im Bistum Passau über Jahrzehnte Denk- und Verhaltensmuster wirkten, durch die vor allem Bischöfe und Generalvikare den Schutz der Institution und der Priesterschaft über das Wohl der Betroffenen stellten. Erst seit der Jahrtausendwende, besonders seit 2010, habe das Bistum zunehmend verbindliche Verfahren für Meldungen, Aufarbeitung und Prävention etabliert.

Punkt 8 Uhr hat die Pressestelle der Universität heute die historische Missbrauchsstudie zur katholischen Kirche im Bistum Passau freigegeben.

Die Studie vermeidet es, konkrete Einrichtungen zu benennen, um Betroffene nicht identifizierbar zu machen.

Rund 58 Prozent der Betroffenen erlitten durch Priester Missbrauch oder Gewalt im schulischen Umfeld – in Klassenräumen, Lehrerzimmern, Fluren oder Räumen für Nachhilfe und Einzelgespräche.

Etwa 32 Prozent der Betroffenen waren Ministranten oder eng ins Pfarrleben eingebunden. Tatorte: Sakristeien, Pfarrhäuser, Gruppenräume, Freizeiten, Ausflüge oder Privatwohnungen von Priestern.

Bei Ordensgeistlichen dominieren Heime und Internate: Viele Betroffene waren als Seminaristen, Schüler oder Heimkinder in klösterlichen Einrichtungen untergebracht. Tatorte: Schlafsäle, Duschen, Waschräume, Internatsflure, Studierzimmer der Präfekten, interne Unterrichtsräume. Die Studie betont, dass Kinder in diesen geschlossenen Systemen häufig von ihren Familien isoliert waren; ganze Jahrgänge oder Gruppen könnten betroffen gewesen sein – entsprechend hoch ist das Dunkelfeld.

Auch Chöre, Jugendgruppen, Pfadfinderlager, Zeltlager und Ferienfreizeiten waren in mehreren Fällen Tatort für sexuelle oder körperliche Übergriffe.

Ein eigener Exkurs der Studie widmet sich den Frauenorden und ihren Kinder- und Schülerheimen. Dort werden insgesamt rund 30 Betroffene genannt, die körperliche Gewalt durch Nonnen schildern. Zusätzlich dokumentiert die Studie mindestens fünf Betroffene, die Ordensfrauen sexuellen Missbrauch vorwerfen. Weitere Betroffene berichten von sexuellem Missbrauch durch Priester in denselben Einrichtungen.

Für die bischöflichen Seminare und Heime des Bistums – darunter St. Max, St. Valentin, St. Altmann, Pellianum und das Konradinum – nennt die Studie die Namen explizit. Diese Einrichtungen sind historisch dem Verantwortungsbereich der Diözese zuzuordnen.

Das bischöfliche Knabenseminar St. Max wird besonders ausführlich behandelt. Die Studie beschreibt dort klare Muster von Gewalt, Demütigungen und sexualisierten Grenzverletzungen. Die detaillierte Darstellung dürfte auch damit zusammenhängen, dass drei Mitglieder des Betroffenenbeirats dort aufwuchsen, darunter der Sprecher Siegfried Lang. Das Haus sei von „Angst, Unterdrückung und Kadavergehorsam“ geprägt gewesen; nur wer bis ins Detail gehorchte, war einigermaßen vor Strafen geschützt. Außerdem habe es sexuelle Übergriffe gegeben: Bei der Abendrunde habe ein Präfekt beim „Einwecken“ unter der Bettdecke an den Genitalien der Buben herumgegriffen – ein Muster, das sich über längere Zeit wiederholt habe. „Aha, warst du heute dran?“, sei der Spruch in der Gruppe gewesen.

Lang erinnert sich in einem Interview des Vorjahres an die Todesanzeige eines bekannten Täters, der dort mit der kirchlichen Ehrbezeichnung „hochwürdiger Herr“ verabschiedet wurde. „Das passt nicht“, sagt er. Die Kirche müsse solche Höflichkeits- und Ehrentitel dringend überdenken und reduzieren. Zur institutionellen Haltung sagt. Lang: „Der pastorale Kreis der Kirche scheint sich immer noch wegzuducken.“ Ein Beispiel ist der Informationsflyer, den der Betroffenenbeirat erstellt hat, um Betroffene zu ermutigen, sich zu melden. Der Flyer sei weder in den Gottesdiensten verlesen noch ausgelegt worden – entgegen der ursprünglichen Zusage.

Im Konradinum, einem bischöflichen Schülerheim an der Donaulände, heute Sitz der Caritas, dokumentiert die Studie körperliche Gewalt, entwürdigende Erziehungsmethoden und grenzverletzendes Verhalten. Bereits Anfang der 1960er Jahre gab es Beschwerden über den damaligen Direktor, der als „tyrannisch“ beschrieben wird und wegen Nichtigkeiten ohrfeigte; eine Visitation des Ordinariats relativierte die Vorwürfe jedoch. Ein ehemaliger Schüler berichtet von schweren körperlichen Verletzungen durch einen Schützling des Direktors und von ausbleibender Hilfe.

Die Historiker werteten kirchliche Akten aus, in denen zahlreiche staatsanwaltschaftliche Dokumente – etwa Vernehmungsprotokolle, Einstellungsverfügungen, Strafbefehle oder Rechtshilfeersuchen – abgelegt waren. Anhand dieser Unterlagen rekonstruierte das Forschungsteam, wie staatliche Stellen die Vorwürfe bewerteten und wie das Bistum auf das staatliche Vorgehen reagierte.

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Bischof Stefan Oster in seiner Video-Stellungnahme (Quelle: Vimeo)
Bischof Stefan Oster erklärte in einer Stellungnahme, die sein Medienbüro produziert hat: Verantwortliche der Kirche hätten über Jahrzehnte mehr Wert auf den Schutz der Institution und der Täter gelegt als auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen. Das sei aus seiner Sicht der „größte Skandal“. Die Studie zeige eindringlich, dass dieses Verhalten durch ein kirchliches wie gesellschaftliches Umfeld begünstigt worden sei, in dem Missbrauch nicht geglaubt oder tabuisiert wurde. Ein Kapitel befasse sich mit den sogenannten „Bystandern“, also Mitwissern, die etwas wahrgenommen hätten, aber aus verschiedenen Gründen nicht eingegriffen hätten oder sich sogar mit Beschuldigten solidarisierten. Er spricht von Schweigekulturen und priesterlicher Überhöhung.

Siegfried Lang wünscht sich: Im Dom soll künftig ein Kunstwerk stehen – ein dauerhaft installiertes Sühnemal, das nicht verschwinden kann und einen Impuls an Betrachtende geben soll. Die Skulptur solle das Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht symbolisieren, das Missbrauch über Jahrzehnte ermöglicht habe.

Anmerkung der Redaktion: Bischof Oster, so sehr seine Erklärung zur Missbrauchsstudie von Demut und Scham geprägt ist, gestaltet an anderer Stelle ein gesellschaftliches Klima, das Minderheiten verletzen kann. Mit seinem Festhalten an einem überkommenen Familienbild und kritischen Äußerungen zu Diversität und LGBTQ-Menschen trägt er zu einem Umfeld bei, in dem sich Betroffene ausgegrenzt und verletzt fühlen. 

hud

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8. Dezember 2025
 
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